Die Wiederentdeckung der Langsamkeit und die Sehnsucht nach der fotografischen Wahrheit

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Website des Fotoateliers „slow photography berlin“ von Oleg Farynyuk

In Zeiten der digitalen Kultur 2.0 blüht das Hipstertum, das nicht nur dem Vollbart eine Renaissance verschafft, sondern auch alte, umständliche und daher in vieler Hinsicht zurecht abgelöste Technologie wieder entdeckt. Dahinter steckt die – wenn auch in der Regel unreflektierte – technik- und medientheoretische Einsicht, dass sich die Wahl der Technik in das mit ihr Hergestellte einschreibt. Im Kontext dieser Technik-Nostalgie stößt man nun offensichtlich, wie ein von Hannes Vollmuth am 30. Juli diesen Jahres in der Süddeutschen Zeitung publizierter Artikel berichtet, in Berlin – wo auch sonst? – auf einen Porträtisten, der sich des Nass-Kollodium-Verfahrens bedient, jenes aufwändigen Prozesses aus dem 19. Jahrhundert also, bei dem das Herstellen der Platte, die Aufnahme und deren Entwicklung in einer Kette flüssig aufeinander folgen müssen. Nach Stephan Jacobs, Alex Timmermanns oder Borut Pertelin hat also der in Berlin lebende Ukrainer Oleg Farynyuk das Nass-Kollodium für sich entdeckt. Was mich an diesem Phänomen interessiert, ist nicht die nahe liegende Frage, ob das nostalgischer Kitsch sei, sondern das damit verbundene Versprechen einer Fotografie, die zur Wahrheit befähigt sei, weil sie, so Vollmuth, keine Posen zulasse: „Das Gegenteil von Selfie: Eine uralte Fototechnik […] lässt keine Posen zu. Sie zeigt die Menschen, wie sie wirklich sind.“ 30 Sekunden seien zu lange für das Posieren, sodass die für den Fotografen Sitzenden am Schluss auf das zurückgeworfen wären, was sie wirklich seien. Der Porträtfotograf Farynyuk raunt ebenfalls: „Du musst bereit sein für ein Porträt, über das du keine Kontrolle mehr hast.“ Die Fotografie wird also zum Schlüssel, Sichtbarkeiten jenseits des Gewohnten zu organisieren – für das, was Siegfried Kracauer einst als „physische Realität“ beschwor. An deren Gegenpol treten heute „die Pose, das Image-Spiel, die Substanzlosigkeit“ auf, die traditionell mit der Kunst der Postmoderne, ganz aktuell aber auch mit der Praxis der sozialen Netzwerke verbunden werden. Das Analoge, zumal das ursprünglich Analoge, wird vor diesem Hintergrund zum Retter der authentischen Persönlichkeit: ein Kollodium-Porträt anstelle einer Fülle von Selfies.

Die Hoffnung, die soziale Verfälschung des authentischen Menschen medientechnisch zu beheben, ist allerdings erheblich älter. In den 1950er Jahren erhoffte sich beispielsweise der Fernsehästhetiker Gerhard Eckert, dass die Fernsehkamera wie zuvor schon das Mikrofon jede Verstellung entlarven und zum wahren Menschenbild zurückführen werde. Und schon Walter Benjamin war sich in seiner Kleinen Geschichte der Fotografie sicher, anhand der Fotografie ein „optisch Unbewußtes“ freizulegen. Durch eine Fotografie freilich, die nach ihrer durchgreifenden Kommerzialisierung dialektisch wieder an ihre Ursprünge, verkörpert von Hill und Adamsons Kalotypien, anknüpft: „Das Verfahren selbst veranlaßte die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer dieser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein und traten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungen auf einer Momentaufnahme […].“ Mit der reduzierten Belichtungszeit der Carte-de-Visite-Fotografie, die durch das Nass-Kollodium-Verfahren im Zusammenspiel mit verkleinerten Bildformaten ermöglicht wurde, sei dies schon wieder vorbei gewesen. Verkürzte Belichtungszeiten überforderten die Individualität derjenigen, die mit der Technik in Kontakt traten: „Kurz, alles spricht dafür, Bernard von Brentano habe mit seiner Vermutung recht, ‚daß ein Photograph von 1850 auf der gleichen Höhe mit seinem Instrument stand‘ – zum ersten- und für lange zum letztenmal.“ Die authentische Individualität des Bürgers wurde verdrängt durch die Posen und die Staffage des kommerziellen Porträtateliers.

Liegt das Authentische daher medientechnisch notwendig in der Vergangenheit, als eine nostalgische Kategorie, die an das Analoge gebunden ist? Nicht unbedingt, denn es gibt gegenwärtig durchaus Tendenzen das Authentische nicht in einen Gegensatz zum Fluiden und Spielerischen zu verstehen, wenn man beispielsweise Lady Gagas Selbstverständnis als authentisches Konstrukt betrachtet. Die Wiederkehr des Kollodium-Porträts zeigt eher eine hippe Nostalgie für ein bestimmtes Verständnis des Authentischen auf, das medientechnisch einen wahren Kern zu enthüllen anstrebt.

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